Gestorben wird lange

 

Die Ahnenverehrung ist in Vietnam allgegenwärtig. Verstorbene prägen den Alltag der Familien noch fünf Generationen nach deren Tod.

Ahnenkult in Vietnam

Rhythmisches Trommeln dröhnt aus einem Haus in einem Dorf im Mekong-Delta. Pochende Gongschläge und weinende Klänge der Dan Co, einem vietnamesischen Saiteninstrument, vereinen sich mit dem Klirren von Schüsseln und Tassen. Während wir mit dem Motorroller an dem Haus vorbeifahren, drängen sich viele Vietnamesen auf der Veranda. Sie tragen weiße Stirnbänder, einige sind ganz in Weiß gekleidet. Schwaden blau-weißen Rauchs wehen durch die Fenster. In diesem Haus ist jemand gestorben.

Wenn hier getrauert wird, geschieht das nicht im schnellen Takt bayerisch-katholischer Kurzweiligkeit: Sterben, Aussegnen, Beerdigen, um unter endlosen Beileidsbekundungen zu Bratwürsten mit Sauerkraut zu marschieren. Trauer in Vietnam ist laut, aufwendig und dauert lange.

Auf einem Internetforum erzählt Giam Doc von den Trauerfeierlichkeiten für eine gute Freundin von ihm: „Unter dem Klöppeln, Klingeln und Beten eines Mönches haben wir sie eingesargt und hübsch aufbereitet, für mich war das der Moment des Abschiedes, obwohl der Leichnam noch ein paar Tage im Haus lag. (…) Nach ein paar Tagen mit Hunderten von Verwandten, Essen, Trinken, Beten, Trommeln, Klimpern, Singen und wieder von vorn, ging dann der Zug zur Beerdigung. Dazu wurde ein Spezialfahrzeug gemietet mit einen roten Haus drauf, verziert mit goldenen Drachen, Schnitzereien und was weiß ich noch, zudem ein LKW um all ihre persönlichen Sachen zum Verbrennen aufzunehmen und auch die acht Trommler, und Falschgeldwerfer, die Unmengen an Papier und Blattgold in der Gegend herumwarfen.“

Der Tote in dem Dorf im Mekong-Delta war Teil der Familie. Und er wird es weiter sein, er wird weiterhin den Alltag der Familie prägen: Mit ihnen essen, bei schwierigen Entscheidungen zuhören und das Tet-Fest mitfeiern. Denn der Tod ist für viele Vietnamesen kein Abschied des Menschen aus der Familie. Das soziale Sterben in Vietnam dauert lange: Fünf Generationen. So lange sendet die Familie dem Verstorbenen Essen, Reisschnaps, das neueste iPhone (aus Papier) und (Papier-)Geld ins Jenseits. Und sie holt sich Rat, berichtet dem Toten von den neuesten Familienereignissen. Der Sendekanal: Rauch der Räucherstäbchen.

Während wir durch die Dörfer um die Provinz Ben Tre im nordöstlichen Mekong-Delta fahren ist der süßliche Geruch der roten Stäbchen unser Begleiter. In fast jeder Suppenküche, Rollerwerkstatt, jedem Cafe, Hotel oder Straßenverkauf stecken irgendwo ein paar dieser Sender ins Jenseits. Meist in Schälchen mit Sand, auf kleinen Hausaltären aus dunklem Holz, die mit kitschbunten Blinke-Lichterketten verziert sind.

Der Ahnenkult ist in Vietnam allgegenwärtig – und vor allem: konfessionsübergreifend. Es kommt nicht selten vor, dass auch Taoisten in buddhistischen Pagoden Räucherstäbchen für die Vorfahren anzünden. Der vietnamesische Pragmatismus umfasst auch Religionen.

Und das auch noch auf einer anderen Ebene: Denn wenn das Räucherstäbchen abgebrannt ist, ist der Sendevorgang beendet – die Gaben dürfen dann von der Familie verbraucht werden. Es heißt, bei Süßigkeiten seien die Räucherstäbchen von vornherein kürzer.

Bis die Seele des Toten im Mekong-Delta jedoch in den Hausaltar einzieht – meist in Form eines Portraitfotos – werden noch drei Jahre vergehen: Dann wird sich die Familie erneut versammeln und nachts zum Grab pilgern. Der älteste Sohn wird dann einen Blick in das Grab werfen. Schauen, ob der Verwesungsprozess beendet ist. Dann wird er die Gebeine aus dem Grab nehmen, in heißem Wasser abkochen und in einem kleinen, tempelartigen Grab beisetzen.

Wir verlassen die Dörfer, weiter in das Mekong-Delta in Richtung Meer. Der Geruch der Räucherstäbchen wird schwächer. Neben satt-grünen Reisfeldern am Wegesrand wachsen Palmen und Sträucher. Die grauen harten, tempelartigen Gebilde säumen die Felder meilenweit. Die Musik der Städte dringt nicht hierher. Hier herrscht Ruhe.

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